Der Kopf des Helden


Ich empfinde es als eine ungewohnte Situation. Im Llanes Hostel sind alle Pilger. Außer mir. Pilger sein bedeutet, früh aufzubrechen. Während ich den Tag damit beginne, meine Wanderung zu planen, verlässt der letzte Pilger bereits das Hostel. Er muss nicht planen, das macht der Camino für ihn, eine unveränderliche Route, die ihn führt.

Ich habe mich für zwei besondere Orte entschieden: Peña Tú in den Ausläufern der Picos de Europa und die Bufones de Arenillas in den Klippen der Biskaya. Ein Felskopf, der aufrecht in der Himmel ragt, und ein zerklüftetes Felsloch auf einer weglosen Steilküste zwischen Pendueles und Llanes. Zwei Orte, die, ohne zu übertreiben, was den selbstbewussten Spanier:innen ohnehin nicht schwer fällt, für sich Einzigartigkeit beanspruchen können.

Der Weg, der schwerlich einer ist, mäandert durch einen Wald den Berg hinauf. Steil, steinig, und von Wurzeln durchzogen. Einer dieser Maultierpfade. Mischwald. Eukalyptus und Kastanien. Der Boden übersät von lanzettförmigem Eukalyptuslaub, so trocken, dass es unter meinen Füßen knistert. Dazwischen hellgrüne, stachelige Kastanienfrüchte, aufgebrochene Kapseln und in frischem Braun schimmernde Kastaniensamen. Es ist schattig, die Sonne ausgesperrt. Es wäre angenehm kühl, würde ich nicht erhitzt und schwitzend aufwärts steigen.
Es ist Mittag. Senkrecht steht ein blasser Halbmond über dem Nationaldenkmal Peña Tú am Himmel. Ein mächtiger zerklüfteter Felsblock, der seit Jahrtausenden trotzig der Erosion widersteht. Für einen bronzezeitlichen Kultplatz ein angemessenes Setting. Sandstein. Unerwartet die Assoziation Sächsische Schweiz in Asturien Ehrwürdiger Fels nennen ihn die Leute. Thou Rock trifft es besser, weil es kein Personalpronomen der höflich-respektvollen Anrede im Deutschen gibt. Das deutsche Sie ist viel zu allgemein. Holy Rock!<-p>

Peña Tú ist ein Sandsteinfelsen, der sich am westlichen Ende der flachen Bergkette La Borbolla nahe Puertas de Vidiago erhebt. Der erratische Felsblock hat die Form eines Kopfes. Viel Fantasie gehört nicht dazu. Er bildet das Zentrum von 56 megalithischen Grabhügeln. Eine Nekropole.

Auf der Vorderseite des Felsens, sozusagen auf dem Hals der von Wind, Wasser und Frost geschaffenen Figur, eine Komposition von eingravierten Zeichen, die Darstellung eines bronzezeitlichen Dolches und eine rot bemalte, anthropomorphe Figur, bekannt als Kopf des Heiden. Willkürlich dazwischen neuzeitlichere Kreuze, um einen heidnischen Ort durch ein christliches Symbol zu heiligen. Die chronologische Zuordnung scheint unsicher. Prähistorisch sicherlich - bis auf die Kreuze. Kupfersteinzeit, Bronzezeit oder Megalitkultur sind im Angebot.

Das Panorama aus der Höhe auf die Sierra del Cuera ist atemberaubend. Der Abstieg gelingt nur stolpernd und rutschend. Die Sideria El Hoyu L'Agua hat Sonntags geschlossen. Ich hatte sie eingeplant, um Wasser aufzufüllen. Aber Eduardo, der Gastwirt, rief mich herein. Er war begeistert, als ich erzähle, dass ich vom Peña Tú komme. Er holte nicht nur Wasser und pflückte mir rote Weintrauben von der Pergola vor der Sideria, sondern zog ein Buch über asturianische, prähistorische Stätten aus dem Regal. Und dann steigerte sich Eduardo in ein spannendes Referat über die Castro-Kulturen. Manche archäologischen Stätten kannte ich, von anderen hörte ich zum ersten Mal. Nie ist ausreichend Zeit für alles, was mir begegnet. Über die Autobahn Santander - Oviedo hinauf auf die karstige, schattenlose Steilküste, die sich als karstige Hochebene gebärdet. Die Sonne brennt mir gnadenlos auf der Haut.

Plötzlich finde ich mich auf dem Camino del Norte wieder. Zahlreich sind die Pilgerinnen und Pilger, die mir entgegenkommen. Von irgendwoher der Gedanke, falsche Richtung. Vor acht Jahren bin ich auch hier entlanggekommen. Keine Erinnerung. Von den Bufones de Arenillas - einen sonderbaren Naturphänomen, die auch Narrentrompeten heißen - wusste ich damals nichts.

Der Bufones de Arenillas ist ein spektakuläres Küstenphänomen Asturiens. Durch Spalten und Kanäle im Kalksteinfelsen wird bei starkem Wellengang Meerwasser mit großem Druck gepresst, sodass es in einer Fontäne hochschießt; begleitet von einem pfeifenden, schnaufenden Geräusch. Daher der Name: bufar, schnauben. Bufones heißen in Spanien auch die Narren. Die Bufones sind Küstengeysire. Die berühmtesten liegen an der Küste von Llanes, und der größte und spektakulärste von allen ist der Bufones de Arenillas. Doch es braucht einen starkem Wellengang, am besten eine Sturmflut, damit der Geysir in die Höhe schießt, womit eher im Winter zu rechnen ist. Unmittelbar vor meinen Schuhen stürzt ein Felskessel mir senkrechten Wänden steil in die Tiefe. Karstig, schroffe und scharfe Kanten. Selbst der kühnste Freeclimber würde auf einen Abstieg verzichten. Der Kessel, so kommt mir vor, ist ein Eingang zur Hölle. Noch während ich über die mit kantigen Kalksteinbrocken, die wie scharfe Krallen aus der Erde ragen, und moosigen, tückischen Mulden übersäte Küste zu den Bufones de Arenillas klettere, schallt mir ein Sound entgegen, bei dem sich mein Körper zusammenzieht, sich auf Abwehr einstellt.

Heute war ein ruhiger Tag und der Bufones de Arenillas spie kein Wasser in die Höhe, trotzdem bietet er eine beeindruckende akustische Show. Zuerst ein lautes zischendes Fauchen, gefolgt von einem dumpf grollenden Donner. Es war ein eigenartiges, unsicheres Gefühl über den unebenen Boden auf das unheimliche Donnern zuzugehen, das in kurzen Abstönden aus der Tiefe drang. Der Bufones stößt den Atem der Erde aus, während ich leicht schwindelnd an seinem Kraterrand stehe. Ich muss an Dantes Inferno denken, an einen Blasebalg, der die Höllenfeuer betreibt. Heiß genug ist es auf der schattenlosen Steilküste, über die heute nicht die leichteste Brise streicht.
Zurück nach Llanes mit der FEWE-Schmalspurbahn. Reisen wie in einer anderen Zeit. Small Travel. Gemächlich mit einem rumpelnden und knatternden Zug durch die asturianische Landschaft.

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