Villaviciosa City Walk
Ich bin seit gestern in Viaviciosa. Ein nettes Städtchen, wie die meisten in Asturien. Nicht wirklich modern, etwas verschlafen, charmant. Ich kenne Villaviciosa von früher. Ich kam vor acht Jahren auf dem Camino del Norte durch den Ort. Nur auf der Durchreise. Wie das beim Pilgern so ist: zielfixiert eben. Dieses Mal sind alle anderen die Pilger. Sie kommen, übernachten, schon geht's weiter. Ich dieses Mal nicht. Ich wandere nun abseits vom Camino, um zu sehen, was Asturien sonst noch ist. Eine ganze Menge Landschaft und Kultur - bis zurück zu den Dinosauriern.
Regen droht. Doch erst einmal ist er ausgeblieben. Starker Niederschlag war angekündigt. Ab Mittag, für den Rest des Tages. Jetzt ist Mittag. Die Sonne scheint wider Erwarten von einem blauen Himmel herab. Und La Manzanera, die Apfelfee, lacht.
Der Bildhauer und Graveur Mariano Benlliure y Gil hat die Skulptur zu Ehren des Indiano Obdulio Fernandéz Pando entworfen. Wirklich, ein Indiano. Allerdings kein Indianer oder Indio. Früher hießen die Migranten so, die in Amerika ihr Glück machten. Er brachte es in Übersee zu Reichtum und Wohlstand. Zurück in Villaviciosa wurde er zum Gönner der Stadt, und gründete die Cidre Company El Gaitero. 1932 wurde La Manzanera zu seinen Ehren enthüllt.
Die Region Villaviciosa gehört zu den Zentren der Apfel- und Sidraproduktion in Asturien. La Sidra - der Apfelwein - ist das Nationalgetränk, das in den zahllosen Sidrerías angeboten wird. Um den richtigen Geschmack zu bekommen, muss Sidra auf eine bestimmte Weise eingeschenkt und mit Luft gemischt werden. Das Escanciar, ein charakteristisches asturisches Ritual, ist eine kuriose Darbietung. Dabei hält der Escanciador die Flasche über den Kopf und das Glas in Hüfthöhe oder tiefer, wobei die Entfernung zwischen Glas und Flasche etwa einen Meter betragen soll. Der Sidra fließt aufschäumend in dass Glas, sodass durch die Verwirbelung ein frisch sprudelndes Getränk entsteht. In jedem Glas, das einen besonderen Namen - Culín - hat, zwei Finger breit Sidra, nur ein Schluck, der in einem Zug ausgetrunken werden muss, damit die Sidra auf keinen Fall etwas von seiner sprudelnden Frische einbüßt.
Ich raste Mittags in der Calle del Sol, in der Sonnenstraße, nicht Allee, in der Café Bar El AnCho. Wie passend. Wir sind nicht mehr dieselben wie früher, wir sind dieselben - de ahora en adelante - von jetzt an. Steht im Café an der Wand. Ein Menetekel? Nein, sicher nicht. Eine Affirmation, für künftige Zeiten? Ich frage mich, was die Gäste, die ungerührt ihrem Konsum nachgehen und dabei lautstark lamentieren, von dieser kryptischen Botschaft halten. Mein Villaviciosa City Walk endet hier, vor dieser Wand, unter diesem Spruch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nun ein wenig anders geworden bin. Ein Anderer? Nein, ganz bestimnt nicht. Ich bin der Gleiche, mit ein bisschen mehr. Für einen Großstädter wie mich ist es ungewöhnlich, eine Stadt in ein paar Stunden kennenlernen zu können. Draußen wird die Apfelfee nass. Es beginnt zu regnen. Zuerst noch schüchtern, tröpfelnd, als ob der Regen sich nicht entscheiden kann. Für mich war es ausreichend und gut. Der Regen hat gewartet, bis ich fertig war. Villaviciosa ist eine sehr kleine Stadt, und ein paar Stunden waren mir genug.
Villaviciosa liegt in einem sieben Kilometer langem Flussmündungsgebiet, das an der Küste eine riesige Ebene bildet. In der Umgebung der Stadt ist von dem faszinierenden Ökosystem, das die Ría de Villaviciosa sein soll, nicht viel zu sehen. Der Fluss fließt an der Stadt vorbei, durch eine Parklandschaft, die zu einem Sonntagsspaziergang einlädt, und auf Fitnessgeräte lockt. Der Wasserstand bescheiden. Einsam steht ein weißer Reiher im Fluss, den Kopf zwischen die Flügel eingezogen.
Die Altstadt ist herausgeputzt. Vielleicht weil heute Sonntag ist. Besucher, die es immer gibt, flanieren durch die Gassen und belagern die reichlich vorhandene Gastronomie.
Es gibt sie auch in Villaviciosa, die in Stein ausgeführten, mittelalterlichen Comics. Auf den Kapitellen am Portal der Iglesia Romanica de Sta. María de la Oliva. Die einzelnen Bildsequenzen sind wie in einem Comic in einer chronologischen Abfolge angeordnet. Mimik und Gestik der Figuren zeigen oft übertriebene Gesichtsausdrücke und Gesten, um die Handlung ohne Worte verständlich zu machen; in der Welt des Comics ein übliches Stilmittel.
Die in Stein gemeißelten Comics der mittelalterlichen Steinmetzkunst, insbesondere an romanischen Kirchen und Kathedralen, erzählen Geschichten und vermitteln Botschaften durch steinerne Bilderfolgen. Eine wiedererkennbare Symbolik und humorvolle Details boten neben Belehrung auch Unterhaltung und Satire. Sie waren das didaktische Mittel für die Gläubigen und eine künstlerische Ausdrucksform der Kreativität der Steinmetze. Wie sein moderner Kollege hat auch der mittelalterliche Künstler die narrativen Sequenzen durch architektonische Elemente wie Bögen oder Säulen eingerahmt, was die einzelnen Szenen wie ein Comic-Panel wirken lässt. Die mittelalterliche Steinmetzkunst schuf Erzählkunst für alle, machte komplexe theologische Themen auch für das einfache Volk zugänglich. Die Kirchen nutzten die steinernen Comics auch als visuelle Propaganda, ein Machtinstrument, um bestimmte ideologische Glaubensinhalte durchzusetzen. Und dennoch sind sie mehr, denn die Steinmetze arbeiteten in ihre Bilderfolgen Szenen des alltäglichen Lebens, der Mode und Bräuche ihrer Zeit ein, eine kulturelle Chronik, die diese Darstellungen zu wertvollen historischen Quellen macht, wären sie nur überall so gut erhalten wie an den großen Kathedralen.
Neben religiösen Motiven gibt es humorvolle, satirische oder groteske Szenen: Akrobaten, Betrunkene, Tiere mit menschlichen Eigenschaften. Aber auch die ironischen Darstellungen sollten das Publikum ansprechen und zum Nachdenken anregen. Und erst das Bestiarium. Es hält mit jeder Schauergeschichte mit, reicht nur die Fantasy des Betrachters aus.
Villaviciosa steckt voller Eigentümlichkeiten. Die antike Panaderia La Portalina beispielsweise, die mich einen Moment vergessen lässt, warum ich gekommen bin. Sie bietet auch am Sonntag den Passanten Frischgebackenes.
Ein öffentlicher Waschplatz, nicht mehr in Betrieb, aber auch noch nicht abgerissen.
Auf einem Platz am Rand der Altstadt treffe ich auf ein ungewöhnliches Denkmal: Die Eiche von Villaviciosa. Was mich an den Baum von Guernica erinnert, der auch eine Eiche ist. Dieser fast 7000 Jahre alte, basale Stamms einer Steineiche, knapp mannshoch, ist in einem Glaskasten ausgestellt. Gestiftet von Fela, Adolfo S.A. – Marmor, Granite und Kunstquarz – zur dauerhaften Ausstellung im Kulturzentrum verrät die Tafel zu Füßen des Methusalems dem Vorübergehenden noch, während Tauben nach etwas Essbarem picken.
Im Umfeld der Jakobswege ist er omnipräsent: Santo Iago, der Apostel der Pilger, um den sich alles dreht. Auch in Villaviciosa hat er sich einen Ort eingerichtet, abgelegen vom Camino del Norte, wohin sich kaum ein Pilger verirrt. Und ausgerechnet ich muss ihn aufspüren. In der Capilla de Santiago. Auch die Kapelle ist ein Kuriosum. Niemand, den ich gefragt habe, kennt sie. Ihr historischer Ursprung ist nicht bekannt, auch nicht wer ihr Stifter war. Im Inneren steht eine Jakobusstatue, fast ganz im Dunklen. Die vielen Muscheln, die seine Kleidung schmücken, sind kaum zu sehen. Etwas schwach reflektierendes. Ein eisernes Gitter mit modernem Schloss behindert den Eintritt. Später sehe ich ihn online. Erst dann bin ich mir sicher, dass es ist.
Copyright 2025. Texts and Fotos. All Rights Reserved
Villaviciosa City Walk ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen