Der Cuélebre und die Xanas
Ich dachte mir morgens, es gibt nichts zu erzählen. Es regnet in Llanes. Es regnet in Ribadasella. So kräftig, dass mir der Regen schon nach Kurzem den Poncho herab und in die Schuhe läuft. »Seems it never rains in southern California. Seems I've often heard that kind of talk before. It never rains in California.« Davon ist Albert Hammond überzeugt. Aber ich bin nicht in Kalifornien. Und es regnet in Ribadasella. Und regnet, und regnet, und . . . so könnte es immer weiter gehen. Doch es gibt immer etwas zu erzählen. Und zu erleben sowieso.
Sightseeing Ribadasella. Was denn sonst? Im Vorübergehen hörte ich die abgestandene Sentenz: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur . . . Na eben! Wirklich auf Deutsch, denn so gut ist mein Spanisch nun auch wieder nicht. Wie in San Sebastián der Urumea, muss auch der Río Sella kämpfen, um in die Biskaya zugelassen zu werden. Welle um Welle blockiert der Ozean die Mündung und drückt den Fluss, dem die Kraft ausgegangen ist, zurück ins Land.
Und immer lockt das Meer. Den Binnenländer. Die Anrainer der Gestaden der Welt kommen mit dem Rauschen der Brandung im Ohr und mit Salzwasser im Blut auf die Welt. Und sie erzählen von aquatischen Wesen, die ihnen in ihren Träumen erscheinen. Den Xanas, hübschen jungen Frauen mit langen, blonden Mähnen, begegne ich auf der Promenade ans Kap. Nicht persönlich, nur in Erzählungen.
Die Xanas sind asturische Wasserwesen, Nymphen oder Feen. Keltisches Erbe. Sie tragen manchmal weiße Kleidung oder lange Röcke. Meistens erscheinen sie nackt. Sie leben in Höhlen in der Nähe von Quellen und Bächen, wo sie ihr Haar waschen und es mit goldenen Kämmen kämmen. Sie bewahren reiche Schätze auf und besitzen Kleinvieh aus Gold. Viele Geschichten berichten, dass Xanas in Höhlen Truhen voller Gold und Juwelen bewahren. Wer sie trifft, kann reich werden, aber nur, wenn er ihre Rötsel lösen kann. Xanas sind ambivalente Wesen, großzügige Spenderinnen von Reichtum und Glück, gefährliche Verführerinnen oder Kinderdiebe. Sie stehlen Neugeborene und lassen ein Xanín, einen kränklichen Wechselbalg zurück, der ungewöhnliche Dinge tut, rätselhafte Sprüche murmelt oder seltsame Kräfte zeigt.
In einigen Legenden hält ein Cuélebre, ein Drache oder eine Urschlange – Symbol des Chaos und des Reichtums - Xanas gefangen, die ein mutiger Held, der den Cuélebre besiegt, befreien kann. Der Cuélebre hat die Gestalt einer großen Schlange, mit Flügeln, die denen von Fledermäusen ähneln. Sein Atem ist giftig, und seine Schuppen sind härter als Eisen. Man sagt, es gebe Cuélebres, die niemals sterben können. Sie leben in den tiefsten Höhlen, dort, wo kein Sonnenstrahl je hingelangt. Ihre Flügel sind schwarz wie die Nacht, und ihre Augen glühen wie Kohlen. Manchmal bekommen sie diese Flügel erst, wenn sie uralt ist. Gleich nachdem sie geboren werden, fliegen sie zum Meer, um dort Schätze zu bewachen, die auf dem Meeresgrund verborgen sind.
Wie die Xanas, die als Hüterinnen des Wassers und von Schätzen gelten, erscheint auch der Cuélebre als Wächter von Schätzen, Gold und Juwelen - auch übernatürliche Schätze - die tief im Meer oder in Höhlen in den Bergen verborgen sind. Der Cuélebre ist der asturische Drache, ein Monster, das Schätze verbirgt und Xanas bewacht, Vieh verschlingt, das nur mit Mut oder Magie überwunden werden kann. Wer kennt sie nicht, die Jungfrauen in Not, eifersüchtig Schätze behütende Drachen und tollkühne Prinzen, die durch die Märchen und Sagen unserer Kindheit tollten.
Vor langer Zeit lebte in einer Höhle in den Bergen von Asturien ein schrecklicher Cuélebre. Sein Körper war lang wie ein Fluss, seine Schuppen glänzten dunkel, und mit seinen Fledermausflügeln konnte er donnernd über die Täler ziehen. In dieser Höhle bewachte er nicht nur einen riesigen Schatz aus Gold und Juwelen, sondern auch eine wunderschöne Xana, die er gefangen hielt. Sie sang jeden Abend mit trauriger Stimme, und die Leute aus den Dörfern hörten manchmal ihren Gesang über die Berge hallen. Ein junger Hirte, der von einem alten Druiden den Rat bekommen hatte, mit Brot, gesegnetem Salz und heiligen Kräutern, den Cuélebre zu schwächen, wagte sich in die Höhle. Er warf dem Cuélebre das Brot in das aufgerissene Maul. Das Ungeheuer verschluckte es, wurde schwerfällig und seine Schuppen verloren ihren Glanz. Der Hirte befreite die Xana, die ihm einen Teil des Schatzes schenkte.
Die im Regen einsame Playa de la Atalaya, mit einem Paar in Betrachtung des Meers, das mich an Friedrichs Mönch am Meer erinnert, der fantastische Blick über die verregnete Biskaya aus der Höhe vor der Ermita de la Santa Guía oder die verschämt in der hintersten Gasse überlebende Capilla de Santa Ana aus dem 16. Jahrhundert, wo einst Seefahrer ihre Angelegenheiten klärten, deren Verfall nicht mehr aufzuhalten ist. Sie alle werden in meiner Sammlung von Erinnerungen aufbewahrt. In einer inneren Galerie, wo jede von ihnen ihren Platz erhält. Nur die Cueva Tito Bustillo, die mich im Regen stehen ließ, gehört noch immer nicht dazu.
Selbst im Regen ist Ribadasella also eine Reise wert.
Copyright 2025. Texts and Fotos. All Rights Reserved
Der Cuélebre und die Xanas ist geistiges Eigentum des Autors und urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalte dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte und gewerbliche Nutzung ist untersagt.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen